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Das Märchenprinzenwünschebuch

Als ich ein kleines Mädchen war, nahm mich meine Großmutter eines Abends auf ihren Schoss. Ihre Augen blickten mich dabei liebevoll an und ihre Hand streichelte zärtlich die meine. Wir erlebten diese Zweisamkeit nicht sehr oft, aber es waren immer ganz besondere Momente zwischen meiner Großmutter und mir. Meist erzählte sie mir dann eine ihrer wunderschönen Geschichten, die sie sich über viele Jahre ausgedacht hatte.

An diesem Abend fragte sie mich: "Mein Liebelein, hast du dir schon einmal Gedanken über Märchenprinzen gemacht?" Sie schaute mir dabei ernst in die Augen und im Flüsterton sprach sie weiter:" Es ist doch sehr wichtig, sich vorher schon einmal Gedanken gemacht zu haben, denn wie sollte man ihn sonst auf Anhieb erkennen?". Ich nickte zustimmend und flüsterte ebenso leise zurück:" Ob es dann gut wäre, wenn wir meine Gedanken aufschreiben? Sicher ist sicher. Ich kann mich dann immer wieder an meine Wünsche erinnern!"

"Eine gute Idee", meinte meine Großmutter und griff zu dem kleinen, roten Büchlein, das neben ihr auf dem Tisch lag. Das zerfranste Ende eines matt glänzenden goldenen Satinbändchens lugte zwischen den Blättern hervor. Meine Großmutter nahm das Ende vorsichtig zwischen Zeigefinger und Daumen und hob es leicht an, worauf sich das Büchlein öffnete, um sich mit zwei leeren, weißen Seiten zu präsentieren. Es war gerade so, als ob es darauf gewartet hatte. Dann nahm Großmutter ihren Füllfederhalter zur Hand. Sie mochte ihn wohl besonders gerne, denn immer wenn sie ihn mit ihren Fingern berührte, umspielte ein Lächeln ihren Mund. Großmutter schaute mich erwartungsvoll an.

Ich blickte in Großmutters dunkle, warme Augen und legte meine Stirn in Falten, so wie ich es immer tat, wenn ich sehr genau nachdenken musste. Es dauerte ein kleines Weilchen, bis ich die ersten Worte fand.

"Ich wünsche mir, dass er…

.. wie einer dieser hellen, weit leuchtenden Steinfelsen an einem Sandstrand ist. Stark und sicher, ruht er dort, egal ob die Flut ihn umspült, ob die Wellen sich an ihm brechen. Nichts würde ihn erschüttern, im Gegenteil, seine Liebe zum Meer wird ihn bestärken, am richtigen Platz, am richtigen Ort, zu sein.

Seine Augen sollten wie der Frühlingshimmel sein - ein helles Blau mit dem Strahlen der wärmenden Frühlingssonne. Sie würden funkeln und blitzen, wie die  Sonnenstrahlen, die sich fröhlich in den Tautropfen auf den Gräsern einer Frühlingswiese spiegeln.

Ich wünschte mir, dass er sich mir öffnete wie ein Buch, das ich aufschlage um in ihm zu lesen. Ich möchte seinen Lebens-Geschichten zuhören können, die sich in ihm gesammelt haben. Unverblümt, ohne etwas zu verschweigen, ob nun Schönes oder Trauriges - mich teilhaben lässt an allem was ihn bewegt - an allem was sein Leben ausmacht.

Und auch wenn er wie ein Fels sein soll, sollte sein Herz weich und weit sein. Es sollte Platz für all das Schöne haben, aber es sollte auch all die Unstimmigkeiten auf dieser Welt empfinden können. Nicht nur seine Augen sollten sehen, sondern auch sein Herz, denn nur dann kann man fühlen und spüren, wie schön und voller Liebe das Leben ist und verständnisvoll und geduldig am Leben Anteil nehmen.

Er sollte mein Baum sein, an dem ich mich anlehnen kann, beschützt von seinem Blätterdach. Groß und stark würde er da stehen, mich halten und für mich da sein. Und trotzdem würde er auch Platz für viele andere bieten, die sich bei ihm Zuhause fühlen dürfen. Voller Liebe würde er auf seine Bewohner und auf mich blicken und seine Kraft spüren lassen -tragen und halten, in Liebe.

Wie eine Sonne - warm und strahlend - egal, ob es regnet, stürmt oder kalt sein mag, würde er sein. Mit seinem sonnigen Lachen würde er Tränen trocknen und alle Widrigkeiten vergessen machen.

Tief wie ein Brunnen und weit wie der Ozean sollte er sein. Er sollte Tränen weinen können, die so salzig schmecken, wie das Meerwasser und seine Worte so klar und frisch sein, wie das Wasser aus einem Brunnen, der von einer Quelle genährt wird.

Das Kind in ihm sollte lebendig und verspielt sein und er sollte lachen und sich freuen können, so wie ein Kind es tut: unvoreingenommen und voller Freude über das Leben und seine Überraschungen, die es ihm bietet. Wie ein Kind sollte er neugierig und mit Wissensdurst dem Leben begegnen können.

Oh und er darf auch brummig wie ein Bär sein. Ich würde dann meinen Kopf an seine haarige Brust lehnen und sein Fell kraulen. Ich würde ihm beruhigende Worte sagen, bis sein Brummen fast wie das Schnurren eines Kätzchens klingt.

Ich würde mir wünschen, dass er das Wesen einer Katze hat. Selbständig und voller Durchsetzungsvermögen - geschmeidig und voller Grazie - liebebedürftig und voller Zärtlichkeit und sich seines Wertes bewusst ist.
 
Wenn seine Stimme an mein Ohr dringt, sollte es wie Musik sein - seine Töne mich bewegen und durch meinen Körper ziehen, jeden Nerv zum Vibrieren bringen. Tief und voll melodischem Klang sollte seine Stimme sein - mich innen drinnen berühren können."

Ich unterbrach meine Gedankengänge und fragte meine Großmutter: "Was meinst du Großmutter, ob es so einen Märchenprinzen gibt? Ich glaube, ich habe sehr viele Wünsche und Vorstellungen."

Großmutter schaute mich lächelnd an und sagte mit leiser Stimme: " Nein, ich denke nicht, dass es zu viele Wünsche sind. Du wirst sehen, es ist gut, dass du sie hast und genau weißt, wie du dir deinen Märchenprinzen vorstellst, denn nur so wirst du ihn auch eines Tages sofort erkennen können, wenn er vor dir steht! Wir werden deine Wünsche gut aufbewahren." 
Mit diesen Worten gab sie mir einen Gute-Nacht-Kuss und brachte mich zu Bett.

Nach diesem Abend verging eine lange Zeit und ich war inzwischen erwachsen geworden. Meine Großmutter wurde sehr krank und kurz bevor sie verstarb, rief sie mich an ihr Krankenbett. Sie hielt das kleine rote Büchlein in der Hand und gab es mir. Ich konnte ihre Stimme kaum hören, als sie zu mir sprach: "Mein Liebelein, du erinnerst dich doch an deine Märchenprinzenwünsche? Ich kann sie nicht mehr für dich aufbewahren, nimm sie und verwahre sie gut. Schau immer wieder einmal hinein und vergiss sie nicht. Sie sollten auch in deinem Herzen einen Platz haben."

Kurz darauf verstarb sie.

Das kleine, rote Büchlein legte ich in meine Schatzkiste, die ich seit meinen Kindertagen in einer Schublade meines Schrankes aufbewahrt hatte. Ich holte es immer wieder hervor und las meine Wünsche, wie es mir meine Großmutter gesagt hatte. Nein, ich wollte sie nicht vergessen.

Im Laufe der folgenden Jahre bekam ich es fast ein wenig mit der Angst zu tun. Es gab immer wieder den ein oder anderen "Prinzen", der an meine Tür klopfte und mich erobern wollte. In jedem von ihnen entdeckte ich etwas, was meinen Märchenprinzenwünschen entsprach. Und trotzdem fehlte jedem von ihnen der ein oder andere Wunsch aus meinem kleinen, roten Buch. Bei dem einen war es die Sonne und Tiefe des Meeres. Bei einem anderen, der Fels und das klare, frische Quellwasser. Bei wieder einem anderen fand ich das Kind nicht und er konnte kein Baum für mich sein.

Ich stellte mir die Frage, ob ich vielleicht doch zu viele Wünsche oder vielleicht nur nicht genau geschaut hatte. Aber so sehr ich mich auch bemühte das Fehlende bei jedem einzelnen zu finden, ich konnte es nicht entdecken.

Ja, mir wurde Angst und bang. Konnte Großmutter sich so täuschen? Sie hatte doch so viel Lebenserfahrung und hätte mir sicher nicht irgendetwas erzählt, was nicht der Wahrheit entsprechen würde. So grübelte ich immer wieder darüber nach, lange Zeit, und suchte weiter nach meinem Märchenprinzen.

Inzwischen waren viele Jahre nach dem Tod meiner Großmutter vergangen und das kleine, rote Büchlein sah schon ganz abgegriffen vom vielen Blättern und Lesen aus. Ich resignierte und beschloss nicht mehr nach meinem Märchenprinzen zu suchen. Ich sagte mir, dass eben nicht alle Wünsche erfüllt werden könnten, auch wenn Großmutter davon überzeugt war. Ich war traurig.

Ich hatte die Suche aufgegeben und legte das kleine, rote Büchlein ganz tief unten in meine Schatzkiste zurück. Dort sollte es liegen bleiben und in Vergessenheit geraten.

Es verging eine Zeit und ich hatte das kleine, rote Büchlein und meine Wünsche schon fast aus meinem Kopf und meinem Herzen verbannt, als ich eines Abends eine tiefe Unruhe in mir verspürte. Irgendetwas drängte mich nach draußen. Ich spürte die Sehnsucht nach Musik und Tanz, nach fröhlichen Menschen, nach Lachen und glänzenden Augen. Ich konnte mich dieser Unruhe kaum erwehren und gab ihr nach. Ich schlüpfte in mein Tanzkleid und zog mir meine Tanzschuhe über. Dann eilte ich in den Abend hinein, der mich unaufhörlich und verheißungsvoll rief.

Da stand ich nun, inmitten von Musik und lachenden Menschen. Ich blickte in fröhliche Gesichter und schaute auf sich zur Musik bewegende Körper. Die Unruhe in mir war fort. Ich wollte tanzen und mit all den Menschen lachen, als ich eine tiefe Stimme hinter mir vernahm: " Darf ich bitten?" Der Ton der Stimme ließ mich vibrieren und ich spürte ein Zittern in mir - nicht vor Kälte oder Angst. Es war ein wohliges Gefühl.

Ich drehte mich um und blickte in frühlingshimmelblaue Augen, die mich warm und fast schon zärtlich anstrahlten. Ich lächelte und gab ihm meine Hand. Fest legte sich seine Hand um meine und er führte mich hinein, inmitten, der sich zur Musik bewegenden Menschen. 
Geschmeidig und voller Grazie, sicher und sich seiner bewusst, führte mich der Unbekannte über die Tanzfläche, drehte mich hierhin und dorthin. Unsere Schritte waren von einem herrlichen Gleichklang - und ich lächelte. Ich fühlte mich in jeder Sekunde aufgefangen und gehalten. Ein wunderbares Gefühl durchzog mich.

Ich schaute ihn an und mit einem bubenhaften Lächeln erwiderte er meinen Blick. Sein Kopf wiegte sich glücklich zum Takt der Musik. Ich sah die Freude und das Blitzen in seinen Augen und konnte mich nicht satt sehen an ihnen. 
Als sich unsere Blicke begegneten, sprang ein Funke über, mitten hinein in mein Herz. Es brannte lichterloh.

"Ob er mein Märchenprinz war?" kam es mir in den Sinn und ich dachte an mein kleines, rotes Buch mit meinen Wünschen.

Nach vielen durchtanzten Stunden und mit einem Glücksgefühl im Herzen eilte ich nach Hause. Ich wollte ihn wieder sehen. Ein wenig ängstlich und verwirrt über all die Gefühle, die sich in mir ausgebreitet hatten, legte ich mich in mein Bett.  Mein letzter Gedanke galt meinem kleinen, roten Buch. Ich hatte es tief unten in meiner Schatzkiste begraben und darüber meine Wünsche vergessen. Ich wollte es wieder hervorholen und mich erinnern. Über diese Gedanken schlief ich mit einem glücklichen Lächeln ein.

Als ich am Morgen vom Zwitschern der Vögel geweckt wurde, eilte ich zum Schrank, in dem meine Schatzkiste verborgen war. Ich öffnete sie und leerte aufgeregt ihren Inhalt vor mir auf den Boden.

Wo war mein kleines, rotes Buch?

Verwirrt durchwühlte ich alles. 
Es war verschwunden! 
Ich nahm mein Schatzkästchen hoch und schüttelte es, gerade so als könnte sich darin noch etwas verborgen halten. In diesem Augenblick klingelte es an meiner Haustüre.
Etwas widerwillig stand ich auf um nachzusehen, wer mich bei meiner Suche störte. Ich fühlte den Unmut in mir, doch als ich die Türe öffnete, war er verflogen.

In diesem Moment wusste ich, warum mein kleines rotes Buch verschwunden war. Ich brauchte es nicht mehr. 

Vor mir stand mein Märchenprinz mit den frühlingshimmelblauen Augen und dem sonnigen Lachen. Bärenstarke Arme umfingen mich und ich fühlte alle meine Wünsche erfüllt.

Meine Großmutter hatte recht: Wenn er vor dir steht, dann erkennst du ihn: deinen Märchenprinzen. Es war gut, dass ich meine Wünsche aufbewahrt hatte - im kleinen roten Märchenprinzenwünschebuch und in meinem Herzen.